Dies Domini – 5. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Wer die Wahrheit wahrhaft sucht, kann sich nicht mit Fiktionen begnügen. Weil der Glaube selbst die Wahrheit zu verkünden trachtet, ist seine Methode die Vernunft. Glaube ohne Wissen und Erkenntnis ist Unmöglichkeit, eher eine autosuggestive Fiktion, die den Wirren des Lebens eine oberflächliche Stabilität zu verleihen mag, die aber bei ersten lauen Lüftchen des Zweifels wie Sand weggeblasen wird und die dicht unter der Oberfläche liegenden Hohlräume offenbart. Fiktion ist eben, was der lateinische Herkunftsbegriff fictio schon sagt: Erfundenes, Ausgedachtes, selbst Gestaltetes. Die Meister der Fiktion erschaffen sich eine eigene Welt, ein in sich geschlossenes System, das eine gewisse Tragfähigkeit beweist, solange man nicht an den dürren Fundamenten rüttelt. Um dieses System zu schützen, werden allerlei Maßnahme ergriffen. Die simpelste ist es, die eigene Sicht als unumstößliche Wahrheit zu definieren, alles andere hingegen als Lüge. Allein schon die Frage, warum denn etwas so ist, wie es ist, wird dann als aggressiver Akt gedeutet, als satanische Versuchung, als Glaubensschwäche – oder einfach als Lüge. Wer nicht das sagt, was man selbst denkt, lügt.
Das Phänomen ist nicht neu, gegenwärtig aber brandaktuell. Es betrifft Gesellschaft und Kirche gleichermaßen. Dem ultimativen katechetischen Apodiktum „Das muss man glauben“, das jede Frage nach rationaler Rechenschaft über das zu Glaubende autoritär unmöglich macht, korrespondiert das Armutszeugnis einer sich mündig wähnenden Bürgerschaft, die sich lieber der desinformativen Flut von Online-Foren und sogenannter sozialer Medien hingibt, als sich kritisch mit Zahlen, Daten und vor allem Fakten auseinandersetzen. Wer braucht schon Fakten, wenn es doch das Hören-Sagen gibt. Der besorgte Bürger nährt seine Sorge gerne aus dem, was er immer schon wusste und nun wieder hört. Es reicht, dass jemand jemanden kennt, der etwas im Internet gesehen hat. Gerade weil das, was er dort hört, das eigene Bild bestätigt, genügt das schon. Nachfragen und Nachprüfungen braucht da niemand. Die fiktive Verifikation der Autosuggestion reicht doch schon. Man hat es doch immer schon gewusst. Und die, die tatsächlich recherchieren und prüfen und noch einmal nachfragen und Fakten suchen und die Fakten sortieren und bewerten und interpretieren – ja: ohne Interpretation geht es nicht – und dafür den rationalen Verstand vor die irrationale Macht der Sorge setzen, die lügen, wenn sie nicht das sagen, was man selbst immer schon wusste.
Die Sorge gebiert einen Komplex der Selbstüberschätzung, die sich in einer Dekomplexierung der Welt entlädt: Die Vereinfachung der Denkmuster befreit von der Last der Verantwortung, seine Meinung auch begründen zu müssen. Eine Meinung, die nicht wirklich auf belastbaren Gründen ruht, ist eigentlich keine Meinung, sondern höchstens eine Äußerung, die man bestenfalls zur Kenntnis nehmen kann. Wir will man mit jemandem Argumente austauschen und seine und die eigene Erkenntnis vergrößern, wenn alleine schon die Tatsache des Andersdenkens zum Vorwurf der Lüge, des Fremdgesteuertseins (von der Regierung, vom Vatikan oder von sonst wo) oder sonstiger bösartiger Absichten führt. Der gegenwärtig wieder einmal zu beobachtende Drang zur Vereinfachung ist, macht nicht nur jede vernünftige Kommunikation unmöglich. Sie öffnet auch Tür und Tor für die manipulativen Kräfte der Propaganda, die unter dem Mantel der Bestätigung des immer schon Gewussten auch Inhalte ohne Wirklichkeitswert einschleust, die durchaus Kräfte haben, die eine Gesellschaft zu destabilisieren in der Lage sind. Der „Fall Lisa“ ist gegenwärtig ein Beispiel für die Anfälligkeit derer, die der simplificatio terribilis huldigen. Wozu muss man sich ein eigenes Bild machen, wenn man die Bilder doch geliefert bekommt. So konstatiert der Chefredakteur der Westdeutschen Zeitung in seinem in der WZ vom 5. Februar 2016 erschienen Beitrag „Fakten und Fiktionen im Internetzeitaler: Lügen haben schnelle Beine“:
„Massiv von der staatlichen russischen Propaganda- Maschine angetrieben, haben Internet-Lügen in Deutschland derzeit vor allem schnelle Beine und lassen sich kaum noch einfangen. Die ‚taz’ berichtete jüngst über Recherchen des unabhängigen Moskauer Internetportals ‚The Insider’, wonach russische Medien in Deutschland erfundene Geschichten mit Statisten darstellen. Im ‚Fall Lisa’ steht längst der Verdacht im Raum, dass angebliche ‚Verwandte’ des Mädchens Schauspieler waren, mindestens ein Teil der russlanddeutschen Proteste (mit wortgleichen Plakaten, gleichen Gruppengrößen und sehr ähnlicher Organisation) war wohl gesteuert.“ (Quelle: http://www.wz.de/home/politik/fakten-und-fiktionen-im-internetzeitalter-luegen-haben-schnelle-beine-1.2116595 [Stand: 6. Februar 2016])
Das Problem an der Einschätzung Ulli Tückmantels ist freilich, dass sie selbst in Einschränkungen formuliert ist. „Verdacht“, „war wohl gesteuert“ – das alles lässt wieder Raum für Spekulationen. Das ist genau das Problem des Gerüchtes – es ist nie verifizierbar. Es entzieht sich dem Zugriff der Wahrheit. Ein Gerücht braucht keine Beweise. Es reicht, dass es nach dem Möglichen riecht. Und je stärker es riecht, ja sogar stinkt, desto weniger stellt sich die Frage, ob das Mögliche auch das Tatsächliche ist.
Diese Entwicklungen sind nicht neu. Die aggressive Macht des Gerüchtes bedroht immer schon die stille Kraft der Wahrheit. Der Duft ihrer Blüte wird durch den Gestank der Ausdünstungen des Gerüchtes überdeckt. Und dass nicht jeder den Duft der Wahrheit vertragen kann, das ahnte schon Paulus:
Dank sei Gott, der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet. Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensduft, der Leben verheißt. (2 Korinther 2,14-16)
Die Wahrheit entzieht sich der simplificatio terribilis, von der das Gerücht lebt. Fakten meiden die Jünger der Fiktionen. Die Wahrheit stinkt ihnen, weil die Realität nicht mit der selbstgemachten Fiktion in Einklang zu bringen ist. So allerdings ist nicht nur kein Staat zu machen; auch die Wahrheit des Glaubens ist in Gefahr, wenn sich der Glaubende in die Gefilde der Fiktion verirrt. Es braucht dann nicht weniger als den Teufel, um die fiktive Autosuggestion zu wahren. Das fängt schon bei der Frage an, in welcher Weise das Wort Gottes Wort Gottes ist. Manch eine Religion sieht in dieser Frage schon eine Blasphemie. Dann wird der Auserwählte zu einem exklusiven Offenbarungsempfänger erklärt, der nicht rechtfertigen muss, dass die Offenbarung auch tatsächlich. Wer aber auf die Gefahr eines solches intellektuellen Zirkelschlusses hinweist, wird kurzerhand zum Ungläubigen und Verdammenswerten erklärt.
Wie anders sprechen dagegen die Texte vom 5. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C vom Wort Gottes. In der ersten Lesung weicht der Prophet Jesaja erschrocken vor seiner Bestellung zum Verkünder zurück:
Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen. (Jesaja 6,5)
Die Reinigung seiner Lippen mit einer glühenden Kohle durch einen Serafim erscheint fast als schmerzhafter Vorgang. Das Wort Gottes im Mund zu tragen, bedeutet eben auch eine Überwindung. Der Prophet muss sich von der Ich-Sucht reinigen. Er darf nicht seine Wünsche und Bedürfnisse verkünden. Er muss von der Macht der autosuggestiven Fiktion gereinigt werden. Das ist die eigentliche Sünde, die das Ich von Gott trennt. Gott selbst ist nicht vom Menschen getrennt. Sein Lebensatem, der Heilige Geist, erhält den Menschen ja am Leben. Nicht umsonst spricht Paulus immer wieder davon, der Mensch sei „Tempel des Heiligen Geistes“ (so etwa in 1 Korinther 6,19). Aber der Mensch kann diese Wahrheit durch die Gerüche selbstgemachter Wirklichkeiten überdecken. Wer sich dem Wort Gottes stellt, wird da mitunter einen schmerzhaften Prozess der Selbstinfragestellung erleben. Genau das geschieht Jesaja. Er stellt sich dieser kritischen Feuerprobe des Wortes Gottes: Ist das, was ich sage, wirklich das, was ich verkünden soll? Stehe ich hinter dem Wort Gottes, oder verdecke ich es, durch meine eigene Botschaft? Erst nach dieser reinigenden Selbsterkenntnis, die auch keine Ausreden mehr zulässt, wird er gesendet, um mit heißen Lippen das Wort Gottes zu verkünden:
Danach hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sende mich! (Jesaja 6,8)
Die zweite Lesung vom 5. Sonntag im Jahreskreis konstatiert unumwunden die Vernunft als Methode des Glaubens:
Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen? (2 Korinther 15,1f)
Man muss nichts glauben. Man kann sogar nicht glauben, wenn man das zu Glaubende nicht verstanden hat. Man kann nicht unüberlegt glauben. Tut man es doch, ist man den Mächten der Fiktion und der Gerüchte hilflos ausgeliefert. Man geht dann nach dem Hören-Sagen, ohne zu fragen, ob das Mögliche auch im Bereich des Tatsächlichen liegt. Die simplificatio terribilis entfaltet dann ihre aggressive Kraft des Fundamentalismus.
Paulus wehrt diese Gefahr ab. Er erinnert die Korinther an den Urgrund des Glaubens, von dem er betont, das er nicht aus seinem Denken stammt, sondern er selbst ihn schon übernommen hat. Das, was er verkündet, ist eine Wahrheit, die nicht er sich ausgedacht, sondern überliefert hat:
Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift. (1 Korinther 15,3f)
Der kurze Abschnitt beinhaltet das frühchristliche Glaubensbekenntnis, dass sich – weil Paulus es selbst ja schon vorfindet und nach seiner Bekehrung übernommen hat – Anfang der 30er Jahre des ersten Jahrhunderts n.Chr. – also kurz nach Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi – ausgebildet haben muss. Dieses Bekenntnis zu Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi ist der Grund, auf dem allein der christliche Glaube steht.
Freilich ist das Bekenntnis zu einem, der vom Tode – noch dazu vom Kreuzestod – auferstanden ist, für einen vernunftbegabten Menschen an sich absurd. Es widerspricht jedem Wissen und jeder Erfahrung. Die Korinther haben offenkundig genau diese Zweifel gehegt. Wer so etwas behauptet, ist entweder verrückt oder er hat gute Gründe.
Paulus hat gute Gründe. Er nennt zuerst die Schrift. Damit meint er die Texte, die heute als „Altes Testament“ bezeichnet werden. Aus seiner Sicht sind Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi bereits in den messianischen Verheißungen des Alten Bundes begründet. Allerdings stellt sich hier genau die Frage nach der Verifikation. Einen Text als Wort Gottes zu behaupten, ohne diese Behauptung auch belegen zu können, ist ein schmaler Grad, der angreifbar ist. Paulus begründet daher seine Behauptung weiter:
Er [der Auferstandene] erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der „Missgeburt“. (1 Korinther 15,5-8)
Der Auferstandene erscheint also insgesamt 513 Personen: Zweimal dem Zwölferkreis (wobei Kephas – das ist der hebräische Name für Petrus – und Jakobus besonders herausgehoben werden), einmal dem Paulus, vor allem aber 500 Menschen zugleich. Von diesen Fünfhundert betont Paulus, dass die meisten noch leben. Sie sind also befragbar.
Das ist ein mehr als bedeutsamer Hinweis. Zwölf Männer könnten sich verschwören. Paulus, der immer wieder von der korinthischen Gemeinde kritisch hinterfragt und in der Vorgeschichte des 2. Korintherbriefes sogar der Unlauterkeit bezichtigt wurde, ist zumindest den Korinthern gegenüber ein schlechter Gewährsmann. Fünfhundert Menschen aber können sich nicht verschwören. Es sind diese Fünfhundert, die aus dem Gerücht eine Tatsache machen. Dabei ist wichtig, dass Paulus darauf hinweist, dass die meisten noch befragbar sind. Gerade aufgrund der kritischen Haltung zumindest von Teilen der korinthischen Gemeinde ihrem Gründungsvater gegenüber wird man davon ausgehen können, dass eine solche Befragung stattgefunden hat. Paulus konnte es sich seinen Kritikern in der Gemeinde gegenüber wohl kaum erlauben, hier zu bluffen. So sind es diese Fünfhundert, die nicht nur den Korinther gegenüber aus der Fiktion das Faktum der Auferstehung des Gekreuzigten machen; gerade aufgrund der durch die Spannung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde geprägten kommunikativen Ausgangssituation werden sie über die konkrete Kommunikation zwischen Paulus und der Gemeinde hinaus bis auf den heutigen Tag zu einem starken Argument für die Tatsächlichkeit der Auferstehung.
Paulus betont abschließend, dass das unabhängig von der Person der eigentliche Inhalt der christlichen Botschaft ist: keine Fiktion, sondern ein – zuerst historisches – Faktum, das gegen allen äußeren Menschen in den Verkündern selbst Gestalt annimmt. Wären die Jünger Jesu der Fiktion des äußeren Anscheins gefolgt, sie hätten ihre Lektion nicht gelernt. So fordert Jesus sie im Evangelium vom 5. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C die Jünger auf, noch einmal auf den See Genesaret zum Fischen zu fahren. Sie selbst aber wissen eigentlich schon vorher, dass das keinen Sinn haben kann:
Als er seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus! Simon antwortete ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen. (Lukas 5,4f)
Das ist der entscheidende Unterschied zu denen, die es immer schon gewusst haben: Wider alle Besserwisserei lassen sie sich auf die neue Herausforderung ein – und erleben eine Überraschung:
Das taten sie, und sie fingen eine so große Menge Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten. Deshalb winkten sie ihren Gefährten im anderen Boot, sie sollten kommen und ihnen helfen. Sie kamen, und gemeinsam füllten sie beide Boote bis zum Rand, so dass sie fast untergingen. (Lukas 5,6f)
Mehr als der wunderbare Fischfang – vielleicht hatte Jesus einfach nur den See gut beobachtet und durch die Bewegungen der Wasseroberfläche einen großen Fischschwarm ausgemacht (möglich – aber auch tatsächlich?) – ist es die Reaktion der Jünger, gestandene und erfahrene Fischer, die ihr Handwerk verstanden, die auffällt. Männer wie sie laufen keinen Gerüchten hinterher. Dafür lohnt sich der Aufwand nicht. Fiktion ist nicht ihr Geschäft, Fischfang schon. Und dafür bedarf es Fakten, die man nur durch Erfahrung und Beobachtung bekommen kann. Und Erfahrung hatten sie mit diesem Jesus von Nazareth. Die, von denen hier die Rede ist – Simon Petrus, Jakobus und Johannes – hatten ihn erlebt, im Haus des Petrus. Nach dem Markusevangelium waren es diese drei, die schon bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus in seinem und Andreas’ Haus dabei waren:
Sie verließen die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes gleich in das Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen mit Jesus über sie, und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie. (Markus 1,29-31)
In dieser bemerkenswerten kleinen Perikope siegt das Faktum über die Fiktion, die Wahrheit der Begegnung über das übereinander redende Gerücht. Man muss sich bloß die damaligen Wohnverhältnisse in dem Fischerdorf Kafarnaum vorstellen. Allein die Bemerkung, dass es das Haus des Simon und Andreas war, in dem auch die Schwiegermutter des Petrus, der also alleine schon Familie hatte, insinuieren eine beengte Wohnsituation. Direkt nach dem Betreten des Hauses reden die Jünger mit Jesus über die kranke Schwiegermutter, die sich wohl im selben Raum wahrscheinlich auf dem Boden liegend befindet. Vier erwachsene Männer reden stehend über eine am Boden liegende kranke Frau. Allein diese Situation bedeutet eine Kränkung. Das Gerücht macht krank. Die Situation stinkt. Und so hebt Jesus den Kreis der inneren Verschwörung auf und schafft eine neue Situation. Er begegnet der kranken Schwiegermutter, reicht ihr die Hand, richtet sie auf und schafft so eine neue Situation.
Der Text verschweigt, um welche Art von Fieber es sich handelt. Das ist auch nicht wichtig. Das eigentlich Spektakuläre ist das Verhalten Jesu, der sich nicht auf die Konventionen des Üblichen einlässt. Im Lukasevangelium geht die Heilung der Schiegermutter der Perikope vom 5. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C ebenso voraus wie die Heilung von Besessenen und Kranken (vgl. Lukas 4,40f), in denen die Dämonen ihn als Sohn Gottes erkennen. Sein Ruf hat sich also verbreitet. Ein Gerücht um seine Person, das aber für Petrus, Jakobus und Johannes gerade aufgrund der konkreten Erfahrung im eigenen Haus mehr als ein Gerücht war. Es ist diese Erfahrung, die die normative Kraft des Faktischen entfaltet. Sie glauben nicht mehr einfach, sie wissen bereits, dass dieser Jesus von anderer Art ist als das, was sie bisher erfahren haben. Das lässt sie auf sein Wort vertrauen.
Das Wort Gottes ist mehr als geschriebener Buchstabe. Es ist eine Wirklichkeit, die im Menschen Gestalt annehmen muss. Es nimmt den Menschen in Ganzbesitz – wie Jesaja, der sagt:
Hier bin ich, sende mich! (Jesaja 6,8)
Das Wort Gottes ist kein Buch, es ist Gestalt, Gestalt, die es im Menschen annehmen muss. Das Wort Gottes ist auch kein irrationales Gerücht, es ist eine Erkenntnis, die sich mit dem Verstand erfassen lässt. Es ist nicht Fiktion, sondern Logos. Seien Sie gewarnt, liebe Leserin und lieber Leser, wenn man ihnen weißmachen möchte, dass man etwas bloß glauben muss. Das ist zu einfach. Man kann die Wahrheit nicht einfach besitzen. Wer die Wahrheit sucht, muss mit ihr ringen – immer wieder, mit heißem Herzen und brennenden Lippen. Es ist der kritische Zweifel, der das Feuer der Wahrheitssuche immer wieder anfacht. Die Fiktion aber bezeichnet schon den Zweifel als Lüge. Die Wahrheit wird dort keine Heimat finden.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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